Feb 17, 2020  |   No Comments

Complex West: Zurück nach Fishkill

Complex West: Zurück nach Fishkill

„Complex West: Zurück nach Fishkill“
Broschiert: 222 Seiten
Verlag: Titus Verlag; Auflage: 1 (3. Februar 2020)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3946353304
ISBN-13: 978-3946353300

Inhalt

Für manche Menschen ist Fishkill weit entfernt, auch wenn es immer ihr Leben beeinflusst hat. Der Weg zurück in diese Stadt wird jeden auf das Äußerste fordern, denn in all den Jahren hat sich an dem Ort um Complex West nichts verändert. Die Bürger leiden, obwohl es kaum jemand bemerkt.

Die verwobenen Episoden der Serie wurden geschrieben von den Autoren Lily Konrad, Emily Cole, Andreas Seiller und Sascha Ehlert – nach einer Idee von Sascha Ehlert und José A. Martin Vilchez.

Leseprobe

Kapitel 1

Jemand hat mir mal gesagt, wahre Liebe gäbe es nicht. Dass niemand tiefere Gefühle für einen anderen Menschen empfinden könne, weil nur Instinkte uns leiten würden. Bisher hatte ich an diesen Unsinn geglaubt. Jetzt nicht mehr. Es gibt viele Arten von Liebe. Es gibt Liebe, die blind macht. Blind und taub für den, der sie empfindet. Liebe, die einen an seine Grenzen treibt. Manchmal sogar darüber hinaus. Es gibt die verlorene Liebe. Die unglückliche Liebe. Es gibt die oberflächliche Liebe, die kaum länger andauert als eine einzige verdammte Nacht, in der man benutzt und weggeworfen wird. Und es gibt meine Liebe. Meine wahre, nie endende Liebe. Meine verträumte, heimliche Liebe zu dem süßesten und aufregendsten Typen, der je in Complex West gelebt hat. Robert. Der aufregende Robert Myers aus Apartment 61. Rob, der eigentlich aus Longwood, Orlando, stammt, aber dank einer von Gott vorherbestimmten Fügung seit nunmehr vier Monaten im selben Wohnkomplex lebt, wie ich. Dessen Blicke mich verbrennen, tief in mir, ohne dass er es bemerkt. Dessen Stimme die Saiten meiner Seele entlanggleitet wie dunkler, süßer Honig, der träge einen Löffel hinabfließt, sobald ich sie höre.
Ich erbebte und versank tiefer in Schwärmerei, als sich sein Bild unaufhaltsam vor mein inneres Auge schob. Dieses stets glattrasierte, wunderschöne Gesicht mit dem kantigen Kinn. Die vollen, rosigen Lippen. Die dunklen Haare, die sich besonders bei feuchtem Wetter wild und ungezähmt um sein Gesicht locken. Diese graublauen, manchmal etwas melancholisch blickenden Augen mit einem Wimpernkranz, um den ihn jede Frau beneidet hätte. Natürlich ist er immer sehr gepflegt. Trägt zu seiner Jeans meist ein dunkles Hemd. Manchmal auch eines von diesen sportlichen Poloshirts mit Stehkragen. Selten ein T-Shirt. Aber immer diese weißen Turnschuhe von Nike mit den schwarzen Sternen an der Seite. Die hat er immer an. Jeden Tag. Sonntagmorgens trägt er einen Trainingsanzug, wenn er zum Joggen in den Wald aufbricht, der direkt an Complex West anschließt. Er sieht darin sehr männlich aus, irgendwie dynamisch. Aufregend. Wie ein Draufgänger, der genau weiß, was er will. Ich stelle mir immer vor, wie er beim Laufen gleichmäßig keucht, wie er sich anstrengt und schwitzt, um seine Muskeln zu stählen und seine Kondition zu verbessern. Ich sehne mich danach zu erfahren, wie er riecht. Er muss einfach köstlich riechen, so gut, wie er aussieht. Sicherlich wählt er sein Aftershave mit derselben Sorgfalt, wie seine Kleidung. Vielleicht eines mit einem leicht herben Duft nach Amber, vermischt mit…
»Sarah, bist du eingeschlafen?«
Erschrocken öffnete ich die Augen und sah schuldbewusst hinüber zu Katy, die den Sitz rechts neben mir hatte. Ich schüttelte stumm den Kopf. Es war mir peinlich, dass sie mich beim Träumen erwischt hatte. Sie deutete mit der Hand nach vorn auf die große Kinoleinwand. Ich hob zustimmend den Daumen, nickte und wandte den Blick der Leinwand zu, ohne wirklich etwas zu sehen. Der Film war mir gleichgültig. Zu sehr suhlte sich mein Verstand in der Fülle meiner Gefühle für Robert, als dass ich dem langweiligen Actionthriller meine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Der süße Robert. Ich seufzte tonlos und wartete, bis Katy sich wieder auf den Film konzentrierte. Dann träumte ich weiter. Ungestört und ohne schlechtes Gewissen.
Ich liebte ihn nun schon vier Monate. Vielleicht ein paar Tage länger, wer weiß das schon? Am Tag, als er in meinen Wohnkomplex gezogen war, war es um mich geschehen gewesen. Zum ersten Mal hatte ich ihn gesehen, als er mit Mr. Gillager, dem Hausmeister, plaudernd über die Wiese vor Complex West geschlendert war. Einem düsteren Wohnkomplex in Fishkill, New York, in welchem ich seit etwas mehr als zwei Jahren lebte. Nicht, weil es mir hier so gut gefallen hätte. Nein, es war die einzige Miete, die ich mir mit meinem kleinen Gehalt als Kassiererin bei Walmart leisten konnte. Und da kein vernünftiger Mensch, den ich kannte, hier freiwillig leben wollte, waren immer wieder Wohnungen frei. Eine davon hatte ich angemietet. Weil der Preis gestimmt hatte und weil ich einen Scheiß auf all die Gerüchte gab, die dem Wohnkomplex vorauseilten. Was störte es mich, dass Mrs. Binggs, die Kosmetikerin meiner Mutter und Frau, die einfach alles zu wissen schien, was in Fishkill vor sich ging, mir im Vertrauen zugeraunt hatte, Complex West sei verflucht. Als sie hörte, dass ich mich dort eingemietet hatte, war sie mit ernster Miene auf mich zugetreten und hatte eindringlich geraunt: »Kind, bist du von Sinnen? Du darfst nicht in Complex West wohnen. Weißt du denn nicht, was für Gestalten sich dort herumtreiben? Dass viele, die dort gewohnt haben, auf unerklärliche Weise verschwunden sind oder sich merkwürdig verändert haben? Ich an deiner Stelle würde mir lieber ein nettes Apartment direkt in der Stadt suchen. Nicht eines, das so weit entfernt vom Zentrum irgendwo am Waldrand liegt.« Sie hatte theatralisch die Augen gerollt, an ihrem Gin Tonic genippt und mir die Wange getätschelt. »Herrje, ich in deinem Alter habe noch bei meinen Eltern gewohnt. Die jungen Leute von heute wollen immer schon so schnell das Nest verlassen.«
Ich hatte nur gelacht und mich abgewandt. Was wusste die alte Vettel schon?
Robert. Ich hatte ihn gesehen und im selben Moment gewusst, dass er der Richtige für mich war. Bei jedem Karton, den er aus seinem Wagen gehoben und Richtung Treppenhaus getragen hatte, hatte ich ihm vom Fenster aus zugesehen. Irgendwann war sein Wagen verschwunden gewesen. Und er ebenso. Aber ich wusste, dass er in Apartment 61 gezogen war und laut einem nagelneuen Messingschild an seiner Haustür Robert Myers hieß.
Katy räusperte sich. Schnell sah ich zu ihr hinüber, doch sie blickte geradeaus auf die Leinwand. Ich schmunzelte. Katy war der einzige Mensch, der mich, wenn auch nur bedingt, interessierte. Sie lebte wie ich in Complex West. Ab und zu unternahmen wir etwas. Wenn mir langweilig war. Ich mochte sie, denn anders als Andere stellte sie keine dummen Fragen, sondern genoss einfach nur die wenige Zeit, die wir gemeinsam verbrachten. Wenn nur alle Menschen so wären. Von Robert und meiner Liebe zu ihm hatte ich ihr allerdings nie erzählt. Obwohl ich an sich gern über ihn gesprochen hätte. Aber schließlich ging das nur mich etwas an.
Statt mich auf den Film zu konzentrieren, schweiften meine Gedanken erneut zu ihm und dem Tag, an dem ich Robert zum ersten Mal leibhaftig begegnet war. Es war zwei Tage nach seinem Einzug gewesen. Ich hatte mich mit meinem Wäschekorb auf den Weg hinunter in die Waschküche gemacht. Der Weg dorthin führte durch alte, renovierungsbedürftige Gänge im Gedärm des alten Komplexes, die mir immer wieder eine Gänsehaut verursachten. Weshalb auch immer. Als ich die Waschküche betrat, stand er vor mir und zuckte zusammen.

(c) Emily Cole